für meine Kinder  
   
     
   
   
 
 
 
 
         
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PD Dr. Christian-Rainer Weisbach

Familie Alteck hat unsere Familie im Laufe der vergangenen zwei Jahre wiederholt besucht, zuletzt am 27. Oktober 1991. Das Verhalten der ältesten Tochter Anna habe ich in dieser Zeit als unverändert wahrgenommen; das Mädchen machte auf mich stets einen ausgesprochen lebendigen, extravertierten Eindruck. Dagegen nahm ich bei der jüngsten Tochter Yvonne einen extrem gehemmten, ans mutistische grenzenden Verhaltensausdruck wahr. Bei einem Gespräch mit Frau Alteck im Herbst 1991 wies ich sie auf meine Beobachtung hin und machte ihr deutlich, dass nach meiner Auffassung eine Entwicklungsstörung vorliege, die es zu behandeln gelte. Frau Alteck reagierte empört und brach das Gespräch ab. Bei folgenden Begegnungen mied sie den Gesprächskontakt mit mir.

Frau Alteck hat vor und während ihrer Eheberatung mehrfach mit mir Einzelgespräche über ihre Eheschwierigkeiten geführt. Mir fiel schon früh auf, wie wenig sie ihren eigenen Anteil an der Beziehungsproblematik zu reflektieren vermochte. Bei ihren durchaus selbstkritischen Äußerungen wirkte sie unbeteiligt, so dass eine pro-forma-Selbstkritik zustande kam, die wie angelesen wirkte. In ihren plastischen Schilderungen war ihr eigenes Verhalten verstehbar als Reaktion auf durchgänge Ängste (Schwiegermutter, mögliche Krankheiten der Kinder, ihr Mann, Umweltgefahren etc.). Bei einem der letzten Gespräche gewann ich jedoch den Eindruck einer zunehmenden neurotischen Depersonalisation.

In ihren Schilderungen sowie in ihrem Verhalten wirkte sie nicht nur sprunghaft, Frau Alteck stellte sich auch in ihren Handlungsmöglichkeiten als immer stärker beeinträchtigt dar, was mit einer auffälligen Gefühlshemmung einherging. Sie erkannte zwar ihren zunehmenden Kontaktverlust, der geradezu einer Flucht in die Isolation entsprach und sie äußerte auch immer wieder ihren mangelnden Antrieb, so dass sie kaum etwas von dem ausführe, was sie sich vornehme; ja schon das Lesen eines Buches käme nicht zustande, so dass mindestens zehn Bücher gleichzeitig aufgeschlagen herumlägen, doch endeten alle Berichte in der gleichen Stereotypie, dass alles so einfach wäre, wenn ihr Mann sich ändern würde.

Da ich grundsätzlich keine Behandlung im Bekanntenkreis durchführe, hielt ich es für angezeigt, ihr den Sinn und Nutzen einer Psychotherapie vor Augen zu führen. Doch diesen Gedanken wies sie weit von sich, zumal ihrer Ansicht nur einer therapiert gehöre, ihr Mann. Ich vermute, dass der aktualneurotische Zustand durch die narzißtische Kränkung (bevorstehende Trennung) und den Wegfall der Projektionsfläche (der Ehemann entzieht sich ihrem Einfluß durch möglichen Auszug) in einen akuten Wahn umgeschlagen ist.

gez. PD Dr. Christian-Rainer Weisbach

8. Juni 1992




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